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„Eine blöde Situation, weil das eigene Profil verloren geht“: Kreis-Jusos über Schwarz-Rot

Zuerst in der Rotenburger Kreiszeitung erschienen.

 

Die Rotenburger Juso-Kreisvorsitzenden Nike Heitmann und Lukas Hinz zum Koalitionsvertrag, zu einem sozialverträglichen Klimaschutz und zu ihrer Zukunft in der SPD.

Nike Heitmann und Lukas Hinz sind die Kreisvorsitzenden der Jusos, der Jugendorganisation der SPD. Bereits direkt nach der Bundestagswahl haben sie aufgrund des Ergebnisses ihrer Partei als Konsequenz „eine radikale Erneuerung“ der SPD gefordert. Sie dürfe keine faulen Kompromisse eingehen und brauche neue Gesichter an der Spitze. Jetzt, wo der schwarz-rote Koalitionsvertrag vorliegt, wissen sie noch nicht, ob sie diesem zustimmen sollen. Den vom Parteivorsitzenden Lars Klingbeil geforderten Generationswechsel in der SPD können sie noch nicht entdecken. Warum sie sich trotzdem weiter für die Partei starkmachen wollen und eine Oppositionsrolle aktuell auch keine bessere Alternative wäre, erklären Heitmann und Hinz im Interview zum Wochenende.

Die SPD lässt bis zum 29. April ihre Mitglieder über den Koalitionsvertrag abstimmen. Werden Sie dafür stimmen?

Nike Heitmann: Wir als Jusos haben von Anfang an gesagt, dass man nicht zu jedem Preis in diese Koalition gehen darf. Sozialdemokratische Werte müssen erhalten bleiben. Ich tue mich schwer, zuzustimmen. Es ist zwar absehbar, dass eine Mehrheit zustimmen wird. Es ist jedoch für jeden eine persönliche Entscheidung.

Lukas Hinz: Ich bin auch unsicher, habe die mehr als 100 Seiten noch nicht vollständig gelesen. Das Votum an sich finde ich wichtig, es ist ein Ausdruck von Basisdemokratie. Aber der vorgelegte Koalitionsvertrag ist nicht das Gelbe vom Ei.

Gibt es Punkte, die Sie besonders stören?

Heitmann: Migration und Klimaschutz sind wichtige Themen für mich. Migrationsfeindliche Politik kann ich nicht mittragen, das ist mir ein Dorn im Auge. Sie wird auch nicht dazu führen, die AfD zurückzudrängen, das sieht man ja an den Umfragen. Die Reden von illegaler Migration reproduzieren rechte Narrative, die Konservativen öffnen den Rechten die Tür. Das kann man in anderen Ländern sehen, in denen Rechtspopulisten bereits regieren. Das muss die SPD besser machen. Es braucht eine Gegenerzählung.

Indem man die Chancen von Zuwanderung in den Vordergrund stellt?

Heitmann: Ich sage nicht, dass Migration keine Probleme mit sich bringt. Und das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung ist wichtig. Wenn ich aber nicht arbeiten darf und in einer überfüllten Flüchtlingsunterkunft sitze, werde ich wahrscheinlich auch kriminell. Es geht also etwa um eine frühere Arbeitserlaubnis für Geflüchtete und mehr Geld für dezentrale Unterbringung. Schikanen gegen Migranten gefährden sozialen Zusammenhalt.

Hinz: Menschen in Abstimmung mit anderen Ländern an der Grenze abzuweisen, das kommt eigentlich von der internationalen Identitären Bewegung, tief aus dem rechten Lager. Das Thema Migration wird im Koalitionsvertrag auf vier Seiten aufgeblasen, dabei gibt es andere Themen, die meiner Meinung nach wichtiger sind.

Hat die SPD nicht in vielen dieser anderen Themen stark Punkte gemacht, im Vergleich zu ihrem Wahlergebnis, vielleicht auch mit der Mitgliederbefragung im Rücken? Der Mindestlohn bleibt, die Mietpreisbremse…

Heitmann: Ja, da bin ich froh. Wobei die Mietpreisbremse ein Minimum ist. Der soziale Wohnungsbau hat immer noch zu wenig Priorität. Beim Bafög tut sich was, auch wenn man mehr machen muss.

Hinz: Die WG-Garantie steht im Koalitionsvertrag, das ist ein guter Ansatz, das ist eine Juso-Forderung. Wobei der Koalitionsvertrag auch erst mal nur eine Absichtserklärung ist. Man muss sehen, wie und ob die WG-Garantie umgesetzt wird.

Ist die WG-Garantie nicht nur ein hehres Ziel, so wie Klimaneutralität ab einem bestimmten Jahr?

Heitmann: Wenn sie konkret umgesetzt wird, können junge Menschen direkt profitieren. Denn wenn die Mietpreisbremse in Kombination mit der WG-Garantie durchgesetzt wird, soll ein WG-Zimmer für Studierende und Auszubildende nicht mehr als 400 Euro kosten, und falls es doch teurer ist, erstattet der Staat, was on top gezahlt wird.

Hinz: Die eigentliche Frage, warum so viele junge Menschen vom Land in die Stadt ziehen, während auf dem Land oftmals zwei Personen auf 200 Quadratmetern leben, taucht im Koalitionsvertrag allerdings nicht auf.

Ist es nicht normal, dass Anfang-20-Jährige in die Großstadt wollen, zum Studieren etwa, oder sollen die in die Großstädte pendeln?

Hinz: Landflucht hat auch etwas mit einem Ungleichgewicht zwischen urbanem und ländlichem Raum zu tun. Das fängt beim öffentlichen Nahverkehr an. In Buxtehude habe ich eine Bahn, die alle zehn Minuten nach Hamburg fährt, von Bremervörde aus komme ich höchstens einmal in der Stunde nach Hamburg. Und es wird immer noch zu wenig dafür getan, dass sich größere Firmen und Industrie in unserem Landkreis ansiedeln, damit junge Menschen hier eine Ausbildung machen können.

Immerhin, aus Ihrer Sicht, ist das Deutschland-Ticket erhalten geblieben.

Heitmann: Das ist erstmal gut, es wird aber teurer werden. Das wäre doch ein Instrument gewesen, mit dem man etwas für den sozialen Zusammenhalt und gegen Einsamkeit hätte tun können. Ein zukunftstaugliches Element, das die Bahn stärkt und etwas für den Klimaschutz tut.

Kann Klimaschutz sozialverträglich sein oder muss man sich den leisten können, Stichwort Wärmepumpe?

Hinz: Den Satz, dass man sich Klimaschutz leisten können muss, sehe ich sehr kritisch. Ein Heizungsaustausch ist immer teuer. Klar, eine Wärmepumpe kostet viel, aber da muss es Anreize geben, auch über Förderungen. Das Heizungsgesetz war schlecht kommuniziert, aber richtig. Dass Schwarz-Rot es mit dem Koalitionsvertrag streichen möchte, zeigt, dass die Klimakrise nicht verstanden wurde. Stattdessen wird wieder Gas gefördert.

Heitmann: Gas brauchen wir für den Umstieg, aber nicht darüber hinaus. Und Klimaschutz ist kein Gegensatz zu wirtschaftlichem Handeln, allein schon, weil die Folgekosten viel höher sind, wenn man Klimaschutz auf die lange Bank schiebt. Es gibt viele Ideen für konsequenten und sozialverträglichen Klimaschutz. Zum Beispiel Reiche und Unternehmen stärker zu besteuern, die überdurchschnittlich für die Klimaerwärmung mitverantwortlich sind. Stattdessen steht das Klimageld (Staatseinnahmen aus der CO₂-Bepreisung, die Bürgern mit kleinen bis mittleren Einkommen zugutekommen, Anm. d. Red.) nicht im Koalitionsvertrag. Es wird über junge Menschen gesprochen, aber deren Themen finden zu wenig Beachtung, und Klimaschutz ist ein großes Thema für junge Menschen.

Sollte Klimaschutz nicht ein gesamtgesellschaftliches Thema sein, auch für Eltern und Großeltern?

Heitmann: Ja, es ist ein Thema von jungen Menschen, aber nicht nur. Die Politik ist zu wenig zukunftsorientiert, ruht sich meiner Meinung nach zu sehr darauf aus, angeblichen gegenwärtigen Interessen der Bevölkerung zu folgen. Wenn man in Umfragen fragt, was aktuell das wichtigste Thema ist, nennen viele den Krieg in der Ukraine. Aber wenn man fragt, ob Klimaschutz wichtig ist, stimmt ebenfalls eine Mehrheit zu.

Ein Thema, das definitiv die junge Generation betrifft, gerade in Kriegszeiten, ist die Debatte über die Wehrpflicht. Froh, dass die erstmal nicht in alter Form zurückkehrt?

Heitmann: Froh, ja, aber das ist für mich eine Scheindebatte. Ich kenne viele, die zur Bundeswehr gehen würden, wenn der Job attraktiver und flexibler wäre.

Hinz: Man redet um den heißen Brei herum, junge, unerfahrene und teils unmotivierte 18-Jährige würden der Truppe nicht helfen.

Der Gedanke ist ja, dass mittelfristig junge Menschen die Bundeswehr besser kennenlernen.

Hinz: Viele, ich auch, würden eine Wehrpflicht verweigern, bei einer Bundeswehr ohne bessere Finanzierung und Konzepte. Ich sehe aber auch die Alternative dazu, das Freiwillige Soziale Jahr, kritisch, wenn vor allem gemeinnützige Träger und Vereine junge Menschen für einen Vollzeitjob mit 330 Euro pro Monat entlohnen.

Heitmann: Das ist auch so ein Narrativ, dass junge Menschen zu wenig für die Gesellschaft tun. Dabei sind viele engagiert, und das in Krisenzeiten. Wir Jusos sind dafür, junge Menschen nicht in ihrer Zukunftsgestaltung durch ein Jahr bei der Bundeswehr einzuschränken.

Nike Heitmann, Sie sind an einem Projekt zur Erinnerung an das einstige jüdische Leben in Sottrum beteiligt und haben Ende März viel Applaus für eine kritische Rede bei einer Preisverleihung in Rotenburg erhalten. Haben Sie aber auch Sorge, dass sich damit alle wohlfühlen, Sie aber nicht mit Ihren Inhalten durchdringen?

Heitmann: Ach, ich will für meine Meinung einstehen und andere aus meiner Generation inspirieren, das auch zu tun. Ob es ankommt und zu Handeln führt, kann ich nicht abschließend beurteilen, aber ich habe schon manchmal das Gefühl. Wertschätzung ist schön. Und es hilft dem Projekt.

Wie geht es für Sie beide mit ihrem parteipolitischen Engagement weiter? Mit einer SPD-Karriere?

Heitmann: Eine Parteikarriere ist nichts, was man plant. Ich mache gerade Abitur und habe auch Lust, mich stärker zivilgesellschaftlich zu engagieren. Gerade wenn Politik den Sozialstaat immer weiter abbaut, werden Ehrenamtlerinnen und Ehrenamtler gebraucht. Aber ich finde es wichtig, in der SPD zu sein, und dass dort linke Stimmen vertreten sind.

Warum sind Sie nicht bei den Grünen oder Linken, Lukas Hinz?

Hinz: Es ist kein Geheimnis, dass meine SPD-Mitgliedschaft und ich in einer kritischen Solidarität zueinanderstehen, aber ich finde es wichtig, wenn es in der SPD junge Leute gibt, die etwas Radau machen. Der Altersdurchschnitt in der Partei im Landkreis ist katastrophal hoch, Ende 2024 lag er bei 61 Jahren. Die Jusos sind ein Gegenpol, wenn etwas falsch läuft. Neue Parteiämter strebe ich gerade nicht an, ich bin als Juso-Kreisvorsitzender und künftiges Bremervörder Ratsmitglied gut eingebunden und ausgelastet.

Der Parteivorsitzende Lars Klingbeil hat noch am Abend der Bundestagswahl einen Generationswechsel ausgerufen. Sehen Sie den?

Hinz: Viele Jusos, auch ich, sehen kritisch, dass Lars Klingbeil das gesagt hat und dann nach dem Fraktionsvorsitz greift. Die SPD hat einen stabilen Vorstand, aber im Wahlkampf wurde die Ampel-Fehlkommunikation fortgesetzt, da fragt man sich: Gilt das mit dem Wechsel für ihn nicht?

Heitmann: Sich nach der Wahlniederlage, und das war es nun mal, zu befördern, das hätte ich nicht gemacht. Es machen die weiter, die für die Niederlage verantwortlich sind, es kommen keine neuen Leute aus der dritten oder vierten Reihe. Personalentscheidungen sind kein Wunschkonzert, aber es waren nicht wir Jusos, die diese Debatte begonnen haben.

Was ist im Wahlkampf schiefgelaufen?

Heitmann: Die SPD hat sich der älteren Stammwählerschaft und auf Friedrich Merz als polarisierendem Gegenkandidaten ausgeruht. Ich bin kein Freund von Merz, aber man kann sich nicht darauf ausruhen, gegen ihn zu sein. Außerdem muss man jetzt mit ihm zusammenarbeiten. Die SPD hat die Chance verpasst, ihr Profil für soziale Gerechtigkeit und weitere Kernanliegen zu schärfen und war während des Wahlkampfes nicht ausreichend präsent.

Lars Klingbeil soll nun auch Finanzminister werden.

Heitmann: Er ist ein guter, beliebter Politiker, und ich traue es ihm zu. Aber es sind viele Aufgaben, die er da übernimmt.

Jusos: Bundestagswahl war „ein Schock“

Das Bundestagswahlergebnis war „ein Alarmsignal für unsere Demokratie“, meinte der Co-Vorsitzende der Jusos im Kreis Rotenburg, Lukas Hinz. Während im Wahlkreis 35 Lars Klingbeil mit mehr als 40 Prozent gewählt wurde, seien die 25 Prozent für Frauke Langen im Wahlkreis 30 enttäuschend gewesen. Noch mehr Sorge machte Hinz und der Co-Vorsitzenden Nike Heitmann das bundesweite AfD-Ergebnis: ein Schlag ins Gesicht jener, die sich gegen Ausgrenzung einsetzten. Sie befürchten eine Bundespolitik, die auf „Profitmaximierung“ setzt und „Schwächere im Stich lässt“. Ihnen gehe es um eine faire Arbeitswelt, sichere Renten, bezahlbares Wohnen und „echte Klimapolitik, nicht auf Kosten der Ärmsten“.

Die SPD hat viele Jahre Regierungsbeteiligung hinter sich, ist es richtig, dass sie immer wieder Verantwortung übernehmen will?

Heitmann: Es würde guttun, mal in der Opposition zu sein, um wieder selbst Themen zu setzen. Aber das hieße aktuell, die AfD an die Macht zu lassen. Es ist also richtig, Verantwortung zu übernehmen, aber eine blöde Situation für uns, weil das eigene Profil verloren geht. Bürgergeldempfängern damit zu drohen, alle Leistungen zu streichen, ist ein Vorgehen gegen marginalisierte Menschen. Das wird sie nicht in den Arbeitsmarkt integrieren und widerspricht sozialdemokratischen Werten.

Sind bestimmte politische Forderungen, die vor fünf bis zehn Jahren in weiten Kreisen unsagbar waren, in der Sozial- und auch in der Migrationspolitik, normal geworden?

Heitmann: Ja, irgendwann ist das nichts Neues mehr, man wird gefühllos und gewöhnt sich daran, von kriminellen Migranten zu sprechen, dabei gibt es für sie keinen sicheren und regulären Fluchtweg. Was früher als menschenfeindlich galt, wird heute als pragmatisch verkauft.